Sind wir dauerhaft von Reizen überflutet, so registriert unser Körper das irgendwann als Notfallsituation und aktiviert unser biologisches Krisenprogramm. Mit Blick auf die Evolutionsgeschichte entpuppen sich die zunächst unsinnig erscheinenden Reaktionen als sinnvoller Wegweiser für eine gute Arbeitskultur.
Der russische Mediziner und Physiologie Iwan Petrowitsch Pawlow (1849 – 1939) ist bekannt für seinen Pawlowschen Hund, mit dem er die klassische Konditionierung erforschte. Aber auch bei der Untersuchung der Reaktionen des Menschen auf Reizüberflutung und Überstimulation gehört er zu den Pionieren. Mit eher unsanften Methoden erkundete der Forscher die Zustände, die ein Mensch, konstanten Reiz-Impulsen ausgesetzt, zwischen normaler Verarbeitung von Informationen und dem vollkommenen Zusammenbruch durchläuft. Dabei erkannte er zwei Reaktionsstufen der Überstimulation:
Die paradoxe Phase
auf starke Reize wird schwach, auf schwache Reize stark reagiert
Die ultraparadoxe Phase
auf unangenehme Reize wird positiv, auf angenehme negativ reagiert
Beide beschreiben unsere natürlichen Reaktionen auf immense Reizüberflutung. Betrachten wir diese aus verschiedenen Perspektiven und setzen sie in andere Kontexte, ergeben sich zwei durchaus simple und verständliche Reaktionsweisen unseres Körpers auf die gegebene Situation.
Die paradoxe Phase ist die erste Stufe der Überstimulation – der Zwischenspeicher ist voll, die Verarbeitung liegt brach. Als Antwort darauf kehrt unser System zunächst die gewohnten Reaktionsmuster um: auf starke Reize reagieren wir kaum, schwache Reize nehmen wir dagegen besonders stark wahr.
Ich kenne das aus meinem Arbeitsleben in Phasen großer Erwartungen und Druck – ich verbeiße mich in kleine Details, erliege hilflos meinen Perfektionismus, vergesse dabei sowohl meine Kraft als auch den Zeitplan und verliere die eigentlich realen Anforderungen aus den Augen.
Biologisch gesehen macht dieser gefühlt so konfuse Zustand zunächst aber absolut Sinn: in wirklichen Krisensituationen, bei Unfällen, bei heftigen Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen, werden die starken Reize (wie Lärm, Feuer, Chaos) ausgeblendet und das System ermöglicht uns stattdessen, die schwachen Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten. Hierdurch wird das Erkennen von lebenswichtigen Einzelheiten und darin bestehenden Zusammenhängen erleichtert – und gerade die kleinen Details können sich als Lebensretter entpuppen.
Auf paradox folgt ultraparadox: gewähren wir unserem System auch in diesem Notfallmodus keine Pausen und Erholung (oder sind dazu nicht in der Lage), geht unser Körper langsam aber sicher zum zweiten Reaktionsmuster über.
Pawlow formuliert es so: unangenehme Reize werden nun als angenehm, angenehme als unangenehm wahrgenommen. Wir empfinden also das, was unser Körper eigentlich braucht (Ruhe, Erholung, Schlaf) als unangenehm und das, was unser Körper gerade nicht braucht (mehr Reize, Aufgaben, Informationen) als angenehm. Wir halten durch.
Und genau dafür ist dieser Modus gedacht: im absoluten Notfall halten wir ganz einfach nur durch und stapfen tapfer auf unser (lebensrettendes) Ziel zu. Evolutionär gesehen für ermüdende Flucht, Hungersnöte und langandauernde Krisen konzipiert, setzt unser Körper in diesem Stadium ungeheure Kräfte frei und entwickelt einen eisernen Willen und Disziplin.
Leider geraten wir aber auch allzu leicht in der Arbeitswelt in diesen Zustand: Pausen ohne wirkliche Erholung, wild-entschlossener Tunnelblick, die „das-schaffe-ich-noch-Attitüde“ und schlaflose Nächte sind vielen von uns nicht unbekannt.
So sinnvoll diese Reaktionsmuster in den beschriebenen Krisensituationen sind, so wenig erstrebenswert und hilfreich sind sie in unserem Alltag und Arbeitsleben.
Lernen wir sie aber zu verstehen und zu schätzen, können sie uns ein idealer Begleiter auf dem Weg in eine gesunde und effiziente Arbeitskultur sein. Unser Körper gibt uns schon weit vor den beschriebenen Reaktionsmustern kleine Warnhinweise und Signale – doch statt diese frühzeitig zu erkennen und ernst zu nehmen, ignorieren wir sie meist, lenken uns von ihnen ab oder ertränken sie in Kaffee.
So unterdrücken und bekämpfen wir eine der wichtigsten und produktivsten Verarbeitungsphasen unseres Körpers – und damit einen absolut elementaren Teil unseres kreativen Schaffens und Wirkens.
Die Gestaltung des Lebens, der Arbeit und der Welt aus der Hektik, Getriebenheit und Irrationalität eines innerlichen Überlebens- und Krisenmodus heraus klingt nicht gesund und nicht nachhaltig. Machen wir es anders. Richten wir den Blick auf uns und unsere Arbeit nicht unter den Kriterien Leistung, Arbeitszeit und Produktivität, sondern orientieren wir uns an den Faktoren der Wirksamkeit, der Effizienz und Sinnhaftigkeit unseres Tuns. Es zählt, was wir erreichen und bewirken – nicht wie lange wir am Schreibtisch ausharren, wie viele Telefonate wir tätigen oder mit wie viel Geschäftigkeit wir uns umgeben.
Lösen wir uns von unseren eigenen Glaubenssätzen des Höher, Schneller, Weiter und erlauben unserer Kreativität endlich, so zu arbeiten, wie sie es wirklich braucht. Ich mag Kaffee, aber gönnt eurer Kreativität auch mal einen Mittagsschlaf.
Text Martje Mehlert | Lektorat Julia Reverey | Illustration Carina Lange Inhaltliche Anlehnung an Georg Parlow: zart besaitet sowie zartbesaitet.net.