Reizüberflutet

Tagtäglich begegnet uns eine Vielzahl an Eindrücken, Reizen und Erfahrungen – wir nehmen sie auf, verknüpfen, speichern sie und gestalten auf ihrer Basis unser kreatives Schaffen.

Was aber passiert, wenn die Menge der aufgenommenen Informationen unsere inneren Kapazitäten zur Verarbeitung sprengen?

Stau im Kopf

Im Moment der Reizüberflutung oder Überstimulation nehmen wir schlichtweg mehr Informationen auf, als wir zu dem Zeitpunkt verarbeiten können.

Es entsteht ein Informationsstau, den unser Gehirn kurzfristig über eine Art Zwischenspeicher löst: es legt die unverarbeiteten Reize temporär zur Seite, um sich später darum zu kümmern. Über einen begrenzten Zeitraum kann unser Körper so eine größere Fülle an Eindrücken aufnehmen und sie dann in Ruhe-, Schlaf- und Erholungsphasen verarbeiten.

Kommen statt der benötigten Ruhezeiten aber mehr und mehr Reize dazu, so blockiert das System irgendwann die normalen Vorgänge und stellt auf Notfallmodus. Wir sind drüber.

Außen und Innen

Die Quelle für dieses Gefühl kann dabei sowohl im Außen wie auch in unserem Inneren liegen:

intensiver Lärm oder starke Gefühle, langanhaltende Reize wie ein kratzender Pullover, eine aufgeschobene Entscheidung oder das manchmal überwältigende Erleben einer vollkommen neuen Erfahrung. So ist der tropfende Wasserhahn genauso eine Information wie endlose Gedanken- und Gefühlsschleifen und jeder Reiz wird von unserem System fein säuberlich zur Verarbeitung aufgereiht.


Alle bewusst oder unbewusst wahrgenommenen Eindrücke sind für uns in unterschiedlichem Maße stimulierend, von kaum merkbar bis hin zu vollkommen überwältigend - und jeder Mensch hat ein persönliches Maß an Reizfülle, mit dem er sich am wohlsten fühlt.

Grenzerfahrungen

Was hier begrifflich so hölzern daherkommt ist uns allen auf die ein oder andere Weise bekannt.

Überstimulation können wir auf allen Ebenen erleben, jeder in einer anderen Intensität und Ausprägung: von Herzrasen über Verspannung, rote Hautflecken oder dem nervösen Zucken der Augenlider, von dem Gefühl der Überforderung, Gereiztheit und dem Bedürfnis nach Rückzug und Isolation. Wir können nicht mehr klar denken, reagieren impulsiv und irrational und fühlen uns der Situation ausgeliefert.


Die Intensität und Dauer der Überstimulation reicht vom alltäglichen Mikroerlebnis bis hin zum vollkommenen Zusammenbruch, von einem unbewussten Dauerzustand bis hin zu einer explosionsartigen Intensiverfahrung.

Geraten wir, auf dem ein oder anderem Wege, an die Grenzen unserer Belastbarkeit, erlebt unser Körper das ab einem bestimmten Punkt als Krisensituation. Er reagiert mit entsprechenden Manövern: unser Wahrnehmungssystem filtert die einströmenden Informationen kritisch, wir werden mit Stresshormonen aufgeputscht, die Sauerstoffaufnahme nimmt zu, der Herzschlag beschleunigt.

Evolutionär gesehen eine sinnvolle Antwort auf intensive Reizüberflutung durch Naturkatastrophen, Kriege und lebensbedrohliche Situationen: kämpfen, fliehen, durchhalten, überleben. Die Ursachen unserer heutigen Überstimulation unterscheiden sich allerdings meist grundlegend von denen unserer Vorfahren – unsere biologische Reaktion jedoch bleibt die gleiche.

Sind wir erst einmal in diesem Überlebensmodus angekommen, fällt es uns umso schwerer, wieder umzuschalten, die eigentlich so dringend benötigte Ruhe und Erholung zuzulassen und diese bewusst anzusteuern.

Virginia Woolf
Kein Grund, sich anzustrengen.
Kein Grund, zu blenden. Kein Grund,
jemand anderes zu sein als man selbst.

Erkennen und lösen

Reizüberflutung überkommt uns in vielen Formen und Ausprägungen, kurz oder lang, stark oder schwach, bewusst oder unbewusst. Das Verstehen und Erkennen der eigenen Wahrnehmung und der damit verbundenen Grenzen und Vielfalt, der Muster und Identitäten, Werte und Glaubenssätze tut gut und fordert.

Das eigene Zuviel, Zuwenig und Geraderichtig zu erforschen und auszuleben, ist ein Experimentieren in jede Richtung.

Überstimulation bringt uns nicht weiter, sie ist ein anstrengender Zustand für uns selbst, für alle anderen und unsere Umwelt - überhitzt, kopflos und wirr. Das Loslassen und Loslösen davon beginnt genau hier, beim Verstehen und Reflektieren und erfordert dann ein Testen, Machen, Umgestalten und Aufrechtstehen.

Wir sind also angehalten, selbst Verantwortung zu übernehmen. Na endlich.

Text Martje Mehlert | Lektorat Julia Reverey | Illustration Carina Lange | Inhaltliche Anlehnung an Georg Parlow: zart besaitet sowie zartbesaitet.net