
Einfallsreiche Beständigkeit
Was ist die neurobiologische Grundlage für unser Denken, Fühlen, Erinnern? Mit dieser Frage beschäftigt sich Dr. Michael Kohl an den Universitäten Glasgow und Oxford in Forschung und Lehre. Die Theorie des Predictive Coding leitet seinen Forschungsansatz und zeigt, dass unser Gehirn zu noch mehr fähig ist, als wir bisher zu wissen glaubten: es schaut in die Zukunft.
Das orakelnde Gehirn
Schon lange versuchen Forscher herauszufinden, wie das Gehirn Sinneseindrücke in Wahrnehmungen umwandelt und damit die Voraussetzung für komplexes Verhalten schafft. Der Theorie des Predictive Coding zufolge erzeugt das Gehirn ständig kognitive Modelle, um vorherzusagen, was auf uns zukommt.

Wenn diese Vorhersagen mit dem Erlebten nicht übereinstimmen, entstehen Fehlersignale, welche das Gehirn nutzt, um die entwickelten kognitiven Modelle und dazugehörigen Verhaltensweisen entsprechend anzupassen. So wird unser Orakeln immer geübter, die Prognosen mit wiederkehrender Erfahrung besser und unsere Reaktion immer optimierter. Ein wichtiges Ziel unseres Gehirns scheint es demnach zu sein, Überraschungen zu minimieren und Vorhersehbarkeiten zu schaffen.
Glücklich im Prozess
Doch, wenn das so ist, stellt sich die Frage: warum befinden wir uns nicht alle an einem möglichst bekannten Ort, in dem alle Sinneseindrücke beständig, also voll vorhersehbar sind, und bleiben dort?

Beobachtungen geben Antwort: weil nicht der Zustand der absoluten Beständigkeit uns glücklich macht, sondern der Weg dahin – der Prozess, aus dem Überraschenden etwas Berechenbares zu machen. Neue funktionierende Prognosen zu entwickeln, beschert uns positive Gefühle und nicht der Zustand vollkommener Vorhersehbarkeit. Wir wollen Neues entdecken und nicht im Bekannten stagnieren.
Recycling oder neu erfinden
Und in diesem Transformationsprozess hat unser Gehirn zwei Möglichkeiten, um eine neue Prognose zu entwickeln: entweder, es greift auf ein bereits vorhandenes Modell zurück und passt es der neuen Situation an – oder es erfindet ein gänzlich neues (und meist originelleres) Modell und damit gleichzeitig auch die damit verbundenen Verhaltensmuster. Welche Variante gewählt wird, hängt davon ab, in welchem Belastungszustand wir uns befinden.

Strömen viele neue Erlebnisse zur gleichen Zeit auf uns ein, tendiert unser Gehirn dazu, auf alte, bekannte Modelle zurückzugreifen. Befinden wir uns aber in einem Zustand der Routine und Konstanz, so greift es eher zur zweiten Variante und erfindet für die Herausforderungen, vor denen wir stehen, vollkommen neue Lösungen. Es bedarf also der für uns gesunden Mischung aus dem Beständig-Bekanntem und dem Überraschend-Neuem.
Beständig und kreativ
Je stärker der Kontrast zwischen Gleichförmigkeit und neuen Herausforderungen ist, umso mehr scheint es sich also für das Gehirn zu lohnen, neue kognitiven Modelle für die Situation zu erschaffen, anstatt nur alte Modelle zu verbessern.

Zu viel Neues fördert das Zurückgreifen auf bekannte und schnelle Lösungen. Die wirklich guten Ideen hingegen erwachsen aus einer inneren wie äußeren Ruhe und Sicherheit. Kreativität gedeiht am besten aus einem gewissen Maß an Kontinuität, Routine und Geborgenheit heraus – wer hätte das gedacht.
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Text Michael Kohl | Lektorat Martje Mehlert & Julia Reverey | Illustration Tsitsi Roland