Der kreative Prozess

Machen und Muße, Schaffen und Wachsen-Lassen, Tun und Nicht-Tun. Diese beiden Pole finden sich überall in unserem Leben. So wechseln sich auch im kreativen Prozess Phasen der Aktion und Produktivität mit Ruhe und Geschehenlassen ab. Erst in ihrer Wechselwirkung entfalten wir unser volles kreatives Potenzial.

Zyklisch

Versuche ich, den natürlichen Rhythmus kreativer Entwicklungsprozesse zu skizzieren, lande ich immer wieder bei einem ebenso einfachen wie hochkomplexen Modell aus Entstehen, Leben und Sterben: Dem ewigen Zyklus des Lebens.


Auf neuronale Prozesse bezogen könnte man auch ganz trocken sagen: Informationsaufnahme, -verarbeitung und –speicherung. Ich nehme auf, ich verarbeite und ziehe Schlussfolgerungen. Tadaa! Dieser Dreiklang beschreibt für mich Phasen oder Zustände des kreativen Wirkens, die sich je nach Person, Situation und Fragestellung in einer ganz individuellen Abfolge, Intensität und Länge kombinieren.

Dreiklang

Dieser Prozess kann ganz bewusst und gezielt ablaufen, aber genau so auch vollkommen unbemerkt und unbewusst. Denn sowohl die Konfrontation mit einer präzisen Fragestellung, als auch die Bewältigung einer unbekannten Herausforderung oder das Nachfühlen eines inneren Bedürfnisses erfordert eine kreative Lösung und setzt unseren Entwicklungstrieb in Gang. Dieser läuft im Kleinen wie im Großen nach ähnlichen Prinzipien ab und folgt den natürlichen Zyklen der Entwicklung.

Betrachten wir unseren eigenen, ganz persönlichen Dreiklang also einmal genauer.

1. Aufnehmen

Die erste Phase ist die wissbegierige und geöffnete Phase kreativer Zyklen.
Hier sammeln wir Informationen und Erfahrungen, wir erkunden und erforschen, wir nehmen wahr und öffnen die Augen. Wir sind neugierig, nach außen gewandt und aufmerksam und beschaffen uns die nötigen Erkenntnisse aus Medien, aus Gesprächen und Interviews, aus Beobachtungen und Experimenten.
Die Informationen, die wir dabei aufnehmen, bestehen sowohl aus rational-erfassbarem Wissen als auch aus Erfahrungen und Erlebnissen, Gefühlen und Empfindungen.

Eine Idee beinhaltet so viel mehr als die für uns sichtbaren Daten und Fakten

– zunächst ein ziemlich undurchschaubares Informations-Konglomerat.

2. Verarbeiten

Die Integration von Informationen und das kombinatorische Denken in unserem Gehirn geschieht in Regenerations- und Erholungsphasen.
In diesem scheinbar passiven Zustand können unsere Neuronen in Ruhe wirken und die aufgenommenen Informationen sinnvoll verarbeiten. Hier geht es also darum, alles fallen zu lassen. Keine Gedankenschleifen, kein Grübeln, kein Sinnieren –

schlaf eine Nacht drüber und lass dein experimentierfreudiges Unterbewusstsein einfach mal machen.

3. Schlussfolgern

Diese so streng klingende Phase ist ein hochkreativer Akt unseres Körpers: ich hole das Neue in die Welt. Dabei befinde ich mich in einem fokussierten und konzentrierten Zustand und drücke meine gewonnenen Ergebnisse aus – je nach Profession und Kompetenz notiere ich, visualisiere, choreografiere, modelliere oder skizziere. Ich lasse alte Ideen los, ich verbinde sie zu Neuem, priorisiere und sortiere.

Ich ernte die Früchte der bisherigen Arbeit und komme so zu sichtbaren Ergebnissen.

Ein und Aus

Diese drei Phasen beschreiben zunächst ein rationales Modell. In der Realität können sie langsam nacheinander, in springender und wechselnder Reinfolge, in unterschiedlichen Längen und Intensitäten oder auch gefühlt alle auf einmal ablaufen. Wie in der Natur, so gibt es auch in unseren kreativen Prozessen die langen Zyklen der Entstehung, des Lebens und Sterbens und die kurzen Rhythmen des Ein- und Ausatmens.

In unserer ergebnis-orientierten Arbeits-Kultur wird oftmals vergessen, dass diesem finalen äußeren Fortschritt eine unsichtbare innere Entwicklung vorangegangen ist. Lernen wir alle drei Phasen erkennen und schätzen, so können wir mit ihnen im Einklang arbeiten und wirken – statt uns gegen sie zu stemmen.

Text Martje Mehlert | Lektorat Julia Reverey | Illustration Carina Lange | Inspiriert durch** Design- und Kreativitätsmodelle wie Design Thinking und Double Diamond